"Das sehe ich anders" – Wertekonflikte in der Therapie
Herzlich willkommen zu unserer Kolumne, schön, dass du da bist. Einmal im Monat widme ich mich hier verschiedenen Themen aus der Psychotherapiewelt und dem Praxisalltag. ✨
Lesedauer: ca.
7
Minuten
.png)
Neulich saß ich in einer Sitzung, als eine Patientin eine politische Meinung äußerte, die mich innerlich zusammenzucken ließ. Nicht nur, weil ich anderer Meinung war, sondern weil ich merkte, wie mich ihre Worte emotional berührten. In solchen Momenten spüre ich besonders stark, dass ich nicht nur Therapeutin, sondern auch Mensch bin – mit eigenen Überzeugungen, Werten und Grenzen. Doch was bedeutet das für die Therapie? Wie gehe ich damit um, wenn ich mit meinen Patient:innen in einen Wertekonflikt gerate? Ein Thema, das mich aktuell immer wieder beschäftigt.
Neutralität oder Haltung zeigen?
In der Ausbildung lernt man, dass eine wertfreie, akzeptierende Haltung essenziell für die therapeutische Beziehung ist. Doch in der Praxis fühlt sich das oft weniger klar an. Soll ich meine eigene Meinung verschweigen, um die therapeutische Beziehung nicht zu gefährden? Oder ist es wichtig, auch in der Therapie eine Haltung zu vertreten? Und was, wenn eine Patientin oder ein Patient eine Position äußert, die sich für mich nicht nur fremd, sondern ethisch problematisch anfühlt?
Ich merke, dass es hier kein einfaches Schwarz oder Weiß gibt. Natürlich ist es nicht meine Aufgabe, Menschen von meiner Weltsicht zu überzeugen – Therapie ist kein Diskussionsforum. Gleichzeitig bedeutet Neutralität nicht, dass ich alles schweigend hinnehmen muss. Vor allem dann nicht, wenn Äußerungen verletzend, diskriminierend oder menschenverachtend sind. Gleichzeitig sollte ich mich immer fragen: Hat es einen therapeutischen Nutzen, meine eigene Haltung zu äußern? Oder trage ich damit unbeabsichtigt etwas in die Sitzung hinein, das für den therapeutischen Prozess nicht relevant ist?
Zwischen Abgrenzung und Verständnis
Ich frage mich: Was ist meine innere Reaktion? Werde ich wütend, weil mich das Thema persönlich betrifft? Oder macht es mich hilflos, weil ich nicht weiß, wie ich reagieren soll? Ich erinnere mich dann daran, dass hinter jeder Meinung eine Geschichte steckt. Oft sind extreme Positionen ein Schutzmechanismus – gegen Ängste, Unsicherheit oder Kontrollverlust. Wenn ich das im Blick behalte, kann ich mich wieder meiner eigentlichen Aufgabe zuwenden: Nicht zu debattieren, sondern zu verstehen.
Ich versuche dann, den Fokus umzulenken. Was bedeutet diese Meinung für die Patientin oder den Patienten? Woher kommt sie? Und was löst das Thema in ihr oder ihm aus? Oft ist die Haltung, die mich irritiert, gar nicht der Kern des Problems. Vielleicht geht es um das Gefühl, nicht gehört zu werden. Oder um eine tiefe Angst vor Veränderungen. Vielleicht auch um eine alte Verletzung, die sich hinter einer harten Meinung versteckt.
Denn letztlich geht es nicht um das Thema selbst, sondern darum, was unbewusst dahinter steckt. Welche Ängste oder Sorgen führen dazu, dass eine bestimmte Haltung eingenommen wird? Welche Schemata sind aktiv? Wenn ich das verstehe, kann ich die Haltung der Patient:innen als Ausdruck eines inneren Erlebens betrachten – und nicht als persönliche Provokation.
Wenn Grenzen notwendig sind
Trotzdem gibt es Momente, in denen ich merke: Hier muss ich eine Grenze ziehen. Wenn Patient:innen bewusst abwertend oder verletzend sprechen, ist es für mich wichtig, das anzusprechen. Nicht aus einem moralischen Impuls heraus, sondern weil eine funktionierende therapeutische Beziehung auf Respekt basiert. Ich kann nicht authentisch arbeiten, wenn im Raum eine aggressive oder diskriminierende Haltung steht, die mich oder andere Menschen herabwürdigt.
Ich habe gelernt, dass es möglich ist, respektvoll und klar gleichzeitig zu sein. Dass ich Sätze sagen kann wie:
💬 „Ich verstehe, dass dieses Thema für Sie wichtig ist. Gleichzeitig ist es mir wichtig, dass wir hier in einem wertschätzenden Rahmen bleiben.“
💬 „Ich möchte das nicht unkommentiert lassen, weil ich finde, dass eine solche Aussage verletzend sein kann.“
Ich will keinen Machtkampf – ich will Bewusstsein schaffen.
Was mir geholfen hat
🔹 Selbstreflexion: Ich habe mir bewusst gemacht, welche Themen mich persönlich berühren und warum. Das hilft, meine eigene emotionale Reaktion zu verstehen und professionell damit umzugehen.
🔹 Innere Haltung klären: Ich habe mir überlegt, welche Grenzen mir wichtig sind und wie ich sie kommunizieren kann – ohne zu belehren, aber auch ohne mich selbst zu verbiegen.
🔹 Therapeutische Neugier statt Konfrontation: Ich stelle Fragen, um herauszufinden, was hinter einer bestimmten Meinung steckt, statt sofort innerlich auf Abwehr zu gehen.
🔹 Supervision und Austausch: In Gesprächen mit Kolleg:innen habe ich erlebt, dass ich nicht die Einzige bin, die sich mit solchen Situationen schwertut. Das hat mir geholfen, neue Perspektiven zu gewinnen und mich sicherer zu fühlen.
🔹 Fokus auf die Beziehung: Wenn ich spüre, dass ein Thema die therapeutische Beziehung gefährdet, versuche ich, die Meta-Ebene einzunehmen und zu besprechen, was die Meinungsverschiedenheit mit uns macht.
Eine Gratwanderung, die mich wachsen lässt
Diese Momente fordern mich heraus. Sie zeigen mir, wo ich selbst stehe, wo meine Werte und Grenzen liegen. Sie zwingen mich, mich mit meiner eigenen Haltung auseinanderzusetzen – aber auch mit meiner Rolle als Therapeutin. Ich kann nicht immer vermeiden, dass Wertekonflikte entstehen. Aber ich kann lernen, damit umzugehen, ohne die therapeutische Beziehung oder mich selbst zu verlieren.
Und vielleicht ist genau das die eigentliche Kunst: eine Balance zu finden zwischen Verständnis und Abgrenzung. Zwischen Offenheit und Klarheit. Zwischen der Therapeutin, die ich sein will, und dem Menschen, der ich bin.
Wissenschaftlich fundiert
Alle Inhalte unseres Magazins basieren auf aktuellen wissenschaftlichen Kenntnissen. Unsere Artikel werden von Psycholog:innen geschrieben und vor der Veröffentlichung geprüft.
Alle allgemeinen Ratschläge, die in unserem Blog veröffentlicht werden, dienen nur zu Informations-zwecken und sind nicht dazu bestimmt, medizinische oder ärztliche Ratschläge zu ersetzen. Wenn Sie besondere Bedenken haben oder eine Situation eintritt, in der Sie medizinischen Rat benötigen, sollten Sie sich an einen entsprechend ausgebildeten und qualifizierten Arzt oder Ärztin wenden.