Umgang mit globalen Krisen in der Psychotherapie
Herzlich willkommen zu unserer Kolumne, schön, dass du da bist. Einmal im Monat widme ich mich hier verschiedenen Themen aus der Psychotherapiewelt und dem Praxisalltag. ✨
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Minuten

„Eigentlich geht es mir gut, aber …“ oder „Im Vergleich zu anderen darf ich mich ja gar nicht beschweren …“ – solche Sätze höre ich in letzter Zeit häufig in meiner praktischen Arbeit mit Patient:innen. Der Krieg in der Ukraine, der anhaltende Nahostkonflikt, die Klimakrise, wirtschaftliche Turbulenzen, und politische Polarisierung – all das wirkt nicht nur auf gesellschaftlicher Ebene, sondern zunehmend auch auf das individuelle psychische Wohlbefinden und führt zu Unsicherheiten bei Patient:innen.
Gleichzeitig verstärken sie häufig bestehende psychische Belastungen oder bringen neue Symptome ans Licht – etwa Ängste, depressive Verstimmungen, Erschöpfung oder das Gefühl von Kontrollverlust. Doch wie können Psychotherapeut:innen angemessen damit umgehen? Ich habe dazu ein paar Punkte gesammelt, die für die psychotherapeutische Praxis hilfreich sein können.
Emotionen validieren und normalisieren
Zu Beginn steht oft die emotionale Entlastung. Therapeut:innen können helfen, indem sie die emotionalen Reaktionen auf globale Krisen – Angst, Trauer, Wut oder Hilflosigkeit – als nachvollziehbar und menschlich einordnen. Diese Validierung schafft Sicherheit und Vertrauen.
Beispiel:
„Es ist völlig verständlich, dass Sie sich angesichts der aktuellen Nachrichten überfordert fühlen. Solche Reaktionen sind eine normale Antwort unseres Körpers und Geistes auf Bedrohung und Unsicherheit.“
Psychoedukation als Basis
Ein zentrales Ziel ist es, Patient:innen zu vermitteln, wie externe Krisen innere Stressreaktionen auslösen. Ein fundiertes Verständnis der eigenen Reaktionen kann bereits entlastend wirken.
- Stressreaktionen verstehen: Fight-or-Flight-Reaktionen und deren körperliche wie emotionale Folgen erläutern.
- Individuelle Auslöser identifizieren: Was verstärkt den inneren Stress, z. B. Nachrichten, Isolation, Konflikte?
Beispiel: „Gibt es bestimmte Situationen oder Themen in den Nachrichten, bei denen Sie besonders stark reagieren?“
Resilienz stärken – psychische Widerstandskraft aufbauen
In einer Welt voller Unsicherheiten wird Resilienz zur zentralen Ressource. Ziel ist es, Patient:innen darin zu unterstützen, auch in belastenden Zeiten handlungsfähig zu bleiben.
- Achtsamkeit und Selbstfürsorge etablieren: Rituale, Pausen, bewusste Körperwahrnehmung.
- Stressregulation üben: Atemtechniken, Progressive Muskelentspannung, Bewegung.
- Ressourcen aktivieren: Was hat mir in der Vergangenheit geholfen? Wer oder was gibt mir Kraft?
- Krisen als Entwicklungschance reflektieren: Auch kleine Erfolge sichtbar machen.
Beispiel: „Auch wenn es paradox klingt – gibt es vielleicht etwas, das Sie trotz allem in dieser Zeit über sich selbst gelernt haben?“
Den Fokus auf das Beeinflussbare lenken
Viele globale Krisen entziehen sich dem direkten Einfluss von Einzelpersonen. Das Gefühl der Ohnmacht lässt sich oft lindern, wenn Patient:innen lernen, sich auf die Aspekte zu konzentrieren, die sie aktiv gestalten können.
- Kontrollkreis entwickeln: Was liegt in meiner Macht – und was nicht?
- Selbstwirksamkeit fördern: Kleine, erreichbare Ziele helfen, wieder Handlungsfähigkeit und Vertrauen in die eigene Stärke zu erleben.
Beispiel: „Was liegt aktuell in Ihrer Hand? Wo können Sie heute Entscheidungen treffen oder etwas verändern?“
Umgang mit Nachrichtenkonsum reflektieren
Ein dauerhafter Strom negativer Nachrichten kann die psychische Belastung verstärken. Gemeinsam mit Patient:innen kann es sinnvoll sein, den Medienkonsum bewusst zu gestalten.
- Medien-Diät: z. B. feste Zeiten und Dauer für Nachrichten festlegen.
- Positive Inhalte: Bewusst auch Nachrichten konsumieren, die Zuversicht oder Lösungsansätze zeigen.
- Emotionale Achtsamkeit: Wie wirken die Inhalte auf mich und was brauche ich, um in Balance zu bleiben?
Beispiel: „Was halten Sie davon, sich feste Zeiten für Nachrichten einzuplanen – vielleicht nur einmal am Tag für 20 Minuten?“
Umgang mit negativen Gedanken
Globale Krisen aktivieren häufig automatische, negative Gedanken, etwa über die eigene Sicherheit, über Zukunftsängste oder über soziale Isolation. In der Therapie können diese Gedanken identifiziert und verändert werden.
- Gedanken erkennen: Welche automatischen Gedanken tauchen auf (z. B. „Es wird nie wieder besser“)?
- Kognitive Umstrukturierung: Realistischere, hilfreiche Gedanken erarbeiten.
- Exzessive Sorgen und Katastrophisierung abbauen: z. B. durch Realitätschecks, Reframing oder strukturierte Sorgenzeiten.
Beispiel: „Was spricht dafür, dass Ihre Sorge eintritt und was spricht dagegen?”
Emotionale Verarbeitung ermöglichen
Krisen bringen starke Gefühle mit sich. Aufgabe der Therapie ist es, einen geschützten Raum zu schaffen, in dem Emotionen wie Angst, Wut oder Trauer bewusst wahrgenommen, benannt und verarbeitet werden können.
- Gefühle explorieren: „Welche Emotionen lösen diese globalen Entwicklungen bei Ihnen aus?“
- Regulationsstrategien vermitteln: Atemübungen, Progressive Muskelentspannung, imaginative Verfahren oder kreative Ausdrucksformen wie Schreiben oder Malen.
Beispiel: „Wenn Sie an das Thema denken – welche Gefühle zeigen sich und wo im Körper spüren Sie diese?“
Soziale Ressourcen aktivieren
Globale Krisen können das Gefühl von Isolation verstärken. Deshalb ist es wichtig, bestehende soziale Netzwerke zu stärken oder neue Bindungen zu fördern.
- Beziehungen bewusst pflegen: Freund:innen, Familie, Peer-Gruppen
- Sinn erleben: z. B. durch ehrenamtliches Engagement oder gemeinschaftliche Aktivitäten, die dem Gefühl von Ohnmacht etwas entgegensetzen.
Beispiel: „Könnte es hilfreich sein, sich an etwas zu beteiligen, das Ihnen das Gefühl gibt, etwas Positives beizutragen – z. B. ehrenamtlich oder im Kleinen in Ihrer Nachbarschaft?“
Zurück zu eigenen Thema finden
Manche Patient:innen relativieren ihr eigenes Leid („Anderen geht es doch viel schlechter“) oder verlieren ihre Themen aus dem Blick. Hier kann es helfen, sanft zurück zur individuellen Perspektive zu führen.
Beispiel:
„Ihre Sorgen sind genauso wichtig – auch wenn in der Welt viel passiert. Beides darf nebeneinander bestehen.“
Fazit
Globale Krisen machen auch vor der Praxistür nicht halt. Doch wenn wir als Therapeut:innen flexibel, präsent und klar bleiben, können wir genau das bieten, was viele Menschen jetzt brauchen: Sicherheit, Orientierung und Halt. Vielleicht möchtest du für dich selbst mal innehalten und fragen: Was hilft mir eigentlich gerade, gut durch diese Zeit zu kommen?
Wissenschaftlich fundiert
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